Im Beitrag werden drei deutsche Übersetzungen von Boiardos "Orlando Innamorato" (Marie Wilhelmine Schmidts "Rolands Abentheuer in hundert romantischen Bildern", Johann Diederich Gries' "Verliebter Roland" und Johann Gottlob Regis' "Verliebter Roland") präsentiert und im Hinblick auf ihre textspezifischen Eigenschaften ausgelotet. Dabei wird besondere Aufmerksamkeit sowohl auf die Übersetzervorreden und sonstigen Paratexte als auch auf die jeweils verwendeten kreativen Übersetzungspraktiken gerichtet, die im Zusammenhang mit dem dynamischen Übersetzungsbegriff der Zeit um und nach 1800 zu analysieren sind. Während Schmidts Prosaübersetzung noch im Zeichen der frühneuzeitlichen belles infidèles steht, versuchen Gries und Regis Inhalt und Form des Originals so getreu wie möglich zu reproduzieren. Beide jedoch arbeiten zugleich kreativ, wie es von jeder rhythmischen und metrischen Übertragung zu erwarten ist. Während sich aber Gries hie und da poetische Lizenzen erlaubt, etwa um skabröse Stellen zu zensieren oder um seinen Text für das deutsche Ohr angenehmer zu machen, arbeitet Regis strenger originalgetreu und versieht seinen Text mit einem ausführlichen Apparat, der von einem philologisch-dokumentarischen Anspruch zeugt. Anhand der Boiardo-Übersetzungen wird also exemplarisch gezeigt, dass in der Goethezeit verschiedene Zugänge zum literarischen Übersetzen und unterschiedliche Kreativitätsbegriffe koexistierten. Zugleich führt die Beschreibung des Übergangs von Schmidts freier Gestaltung hin zu Regis’ Originaltreue vor Augen, wie die Nachahmungspoetik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich an Bedeutung verlor zugunsten einer Auffassung von Übersetzung, die dem modernen ,Reiz des Fremden‘ und der Forderung nach größerer Nähe zum Original entgegenkommt.

Deutsche Übersetzungen des Orlando Innamorato zwischen Kreativität und philologischer Sorgfalt: Ein Beitrag zur Geschichte der Boiardo-Rezeption um (und nach) 1800

Daniele Vecchiato
2019

Abstract

Im Beitrag werden drei deutsche Übersetzungen von Boiardos "Orlando Innamorato" (Marie Wilhelmine Schmidts "Rolands Abentheuer in hundert romantischen Bildern", Johann Diederich Gries' "Verliebter Roland" und Johann Gottlob Regis' "Verliebter Roland") präsentiert und im Hinblick auf ihre textspezifischen Eigenschaften ausgelotet. Dabei wird besondere Aufmerksamkeit sowohl auf die Übersetzervorreden und sonstigen Paratexte als auch auf die jeweils verwendeten kreativen Übersetzungspraktiken gerichtet, die im Zusammenhang mit dem dynamischen Übersetzungsbegriff der Zeit um und nach 1800 zu analysieren sind. Während Schmidts Prosaübersetzung noch im Zeichen der frühneuzeitlichen belles infidèles steht, versuchen Gries und Regis Inhalt und Form des Originals so getreu wie möglich zu reproduzieren. Beide jedoch arbeiten zugleich kreativ, wie es von jeder rhythmischen und metrischen Übertragung zu erwarten ist. Während sich aber Gries hie und da poetische Lizenzen erlaubt, etwa um skabröse Stellen zu zensieren oder um seinen Text für das deutsche Ohr angenehmer zu machen, arbeitet Regis strenger originalgetreu und versieht seinen Text mit einem ausführlichen Apparat, der von einem philologisch-dokumentarischen Anspruch zeugt. Anhand der Boiardo-Übersetzungen wird also exemplarisch gezeigt, dass in der Goethezeit verschiedene Zugänge zum literarischen Übersetzen und unterschiedliche Kreativitätsbegriffe koexistierten. Zugleich führt die Beschreibung des Übergangs von Schmidts freier Gestaltung hin zu Regis’ Originaltreue vor Augen, wie die Nachahmungspoetik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich an Bedeutung verlor zugunsten einer Auffassung von Übersetzung, die dem modernen ,Reiz des Fremden‘ und der Forderung nach größerer Nähe zum Original entgegenkommt.
2019
Kreative Praktiken des literarischen Übersetzens um 1800: Übersetzungshistorische und literaturwissenschaftliche Studien
978-3-11-054220-2
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